Von Geschäftsleuten zu Heilsbringern? – Wie Entrepreneure für eine bessere Welt arbeiten

Klimawandel, Coronapandemie, soziale Ungleichheit – die Liste an aktuellen Herausforderungen ist lang und der Bedarf an Engagement, sich dieser Probleme anzunehmen, ist gross. Neben dem vielzähligen karitativen Engagement von Einzelnen, Vereinen und NGOs widmen sich auch immer mehr Entrepreneure der Lösung gesellschaftlicher Probleme – mit unternehmerischem Ansatz.

 

Link zum Artikel im HSG Focus Magazin

Entrepreneurship_ITEM Website

Sie zählen im Moment wohl zu den bekanntesten Entrepreneuren: das BioNTech-Forscherpaar Ugur Sahin und Özlem Türeci, das innerhalb kürzester Zeit einen Impfstoff gegen COVID-19 entwickelte. «Wir beobachten seit 1-2 Jahren einen Trend in Richtung Scientific Entrepreneurship», erklärt Dietmar Grichnik, Professor für Entrepreneurship und Technologiemanagement am ITEM-HSG. «Diese Entrepreneure sind nicht die typischen jungen Rockstars, die wir aus dem Technologiesektor kennen und die gerne im Rampenlicht stehen.» Bei der Gründung von BioNTech im Jahr 2008 waren die beiden Wissenschaftler Sahin und Türeci bereits Mitte 40. 2019 ging das Unternehmen an die Börse, schon jetzt könnten die beiden als Multimilliardäre in Rente gehen. Doch das kommt für die viel geehrten «Weltretter» nicht in Frage. Sie wollen ihr Kapital in die Krebsforschung reinvestieren, um dort den nächsten Impfstoff zu entwickeln. «Das kann man durchaus als Loyalität bezeichnen – gegenüber der Wissenschaft und der Gesellschaft», sagt Prof. Dietmar Grichnik. «Es geht nicht um Reichtum, sondern darum, Wirkung zu erzielen und gesellschaftlich relevante Probleme zu lösen.»

 

Krisenzeiten sind Unternehmerzeiten

BioNTech ist kein Einzelfall. Auch im Bereich Nachhaltigkeit entstehen immer mehr Startups und die Grenzen von Social, Business und Scientific Entrepreneurship verschwimmen. Insbesondere Krisenzeiten sind Unternehmerzeiten und es gibt im Moment einen Rekord an Investments im Silicon Valley. «Dieser Nachbrenner-Effekt ist typisch beim Abklingen von Krisen. Kapitalströme sind Indikatoren dafür, dass gerade herausragende Unternehmen entstehen, die die breite Öffentlichkeit noch nicht kennt», erklärt Prof. Dietmar Grichnik. 

Auch im Kontext der Universität St.Gallen entstehen viele Startups, die von «Missionaren» gegründet werden. Diesem Unternehmertypus geht es weniger um ökonomische Interessen wie dem «Darwinisten» oder um das Bedienen einer konkreten Community wie dem «Communitaristen». Missionare wollen auf Probleme hinweisen und die Welt ein bisschen besser machen. «Das HSG-Spin-Off Gartengold ist ein gutes Beispiel dafür,» erklärt Diego Probst, Head of Startup@HSG. «Das Unternehmen stellt Apfelsaft aus regionalen Äpfeln her, die sonst nicht verwendet würden, und setzt Menschen mit Unterstützungsbedarf für die Ernteteams ein.» Damit setzt sich Gartengold sowohl für Nachhaltigkeit als auch für soziale Teilhabe ein.

 

FoodTech an der HSG

Insbesondere im Bereich FoodTech gibt es an der Universität St.Gallen derzeit viel unternehmerisches Engagement. Das von HSG-Alumnus Raffael Wohlgensinger gegründete Startup Formo stellt beispielsweise tierfreie Käseprodukte her und sammelte vor kurzem 50 Millionen Dollar im Rahmen einer Serie-A-Finanzierung ein. Ein weiteres prominentes Beispiel ist das Fleischersatz-Startup Planted von HSG-Absolvent Pascal Bieri, das im Frühling 2021 17 Millionen Franken Finanzierung erhielt und wenig später im September zum besten Startup der Schweiz gewählt wurde. «Diese Entrepreneure wollen die grossen Nachhaltigkeitsprobleme in der Agrarwirtschaft lösen», sagt Prof. Dietmar Grichnik. «Das treibt sie an, nicht in erster Linie das grosse Business.»

Unternehmertum spielt an der HSG seit jeher eine wichtige Rolle. Mehr als 150 Startups wurden bislang mit dem HSG Spin-Off Label ausgezeichnet, seit zehn Jahren wird ein oder eine Gründer:in des Jahres gekürt und es gibt zahlreiche Angebote für Studierende, die selbst gründen wollen. «Unsere Studierenden sind sehr interessiert und engagiert», sagt Diego Probst. «Sie sind stark intrinsisch motiviert und wollen etwas bewirken.» Sie profitieren vom wertvollen Netzwerk von HSG-Gründerinnen und Gründern. «Vor allem unsere Gründer des Jahres wie Lea von Bidder von Ava, Julian Teicke von wefox oder Kilian Wagner von Viu sind ihrer Alma Mater sehr treu», sagt Diego Probst. «Sie fühlen sich der HSG verbunden. Sie sind Stammgäste bei unseren Veranstaltungen und wollen etwas zurückgeben.»

 

«Entrepreneure müssen international denken»

Ein Startup zu gründen hat in den letzten zehn Jahren seinen exotischen Anstrich verloren und ist im positiven Sinne zum Mainstream geworden. «Die Sandkasten-Atmosphäre ist einer grossen Ernsthaftigkeit gewichen», sagt Prof. Dietmar Grichnik. «Es ist mittlerweile eine Selbstverständlichkeit, dass man diesen Karrierepfad einschlagen kann und wir fördern das auch.» Dietmar Grichnik und Diego Probst freuen sich deshalb auch auf das neue Programm «TalentKick» zusammen mit der ETH Zürich, das interdisziplinäre Teams und junge Talente aus der ganzen Schweiz zusammenbringen soll, um unternehmerisches Engagement zu fördern. Von der HSG ist der ehemalige Präsident der Studentenschaft und Bottle+-Mitgründer Luca Serratore dabei. Für Prof. Dietmar Grichnik ist die neue Initiative auch deshalb wichtig, um beim Thema Entrepreneurship und Innovation nicht zu klein zu denken. «Es tut sich viel in der Region, wenn wir beispielsweise an den Innovationspark Ost oder an das Innovationsnetzwerk Startfeld denken, aber Entrepreneurship hört nicht an der Grenze der Ostschweiz auf. Wir müssen international oder beim Start zumindest schweizweit denken.»

 

Marco Gerster